Artikel von Stephan Mussil über Magnetische Zeiten

Ist der Film in der Fernsehproduktion
vom Aussterben bedroht?

Eine ganz subjektive Betrachtung
von Stephan Mussil (aac).

aus dem MEDIA BIZ Juli/Aug 1994 (Seite 34)

,,Tooor! Toor! Toor!!! Ein Wahnsinn! Nach dieser so spannenden ersten Halbzeit ist jetzt in der vierten Spielminute nach der Pause Rapid endlich der Führungstreffer gelungen. Jubel unter den
Fans!” – Lautstark hören wir den alten Edi Finger aus seiner Hörfunkkabine unter uns. Er ist live dabei. Für mich bedeutet das „Toor!”, schnell die DreißigMeter-Spule aus der stummen Arri auszulegen und dem Motorradfahrer unten beim Stadioneingang Sektor B2 zu bringen. Er rast damit auf den Küniglberg zur vorgeheizten Entwicklung.

Erinnerungen an die ersten Tage meiner Assistentenzeit. Da wurden zwei Filmkameras nebeneinander aufgebaut und abwechselnd Dreißig-Meter-Rollen verdreht. War eine sendenswerte Aktion auf der Rolle, wurde das Material zum Entwickeln geschickt. Der Rest verblieb belichtet und unentwickelt in irgendeinem Mistkübel des Stadions. Pro Match sind damals so an die 35 – 40 Rollen Umkehrmaterial verbraucht worden. Mit etwas Glück war abends eine in der Sendung. Die Spielpause verbachten wir mit Burenwurst und Praterseidl, uns Geschichten aus der weiten Welt erzählend. Die Deutschen und auch die Engländer seien schon im Besitz von elektronischen Geräten, die bereits zwei oder drei Leute tragen könnten. Mit einer einzigen Kamera spiele man auf fünfzig Minuten Band ein halbes Match. Vergessen hatten wir das Problem mit dem Strom. Die Akkus waren alle zehn Minuten zu wechseln. Alle waren begeistert, in den Köpfen waren die Tore für den elektronischen Einmarsch geöffnet.
Wie eine Welle der Begeisterung erfolgte der Anschluß an die moderne Videotechnik nach dem Sport bei den News, dann bei den Dokus bis hin zum kleinen Fernsehspiel. 2-Zoll, 1-Zoll, Dreiviertelzoll, Halbzoll. Die Bänder wurden (werden) im schmäler und ihr Erfolg immer größer. Die ökonomischen und technischen Vorteile waren nicht zu übersehen.
Dennoch gibt es ein Grüppchen von Ewiggestrigen, die noch immer auf Film arbeiten – ich gehöre auch dazu.

Magnetische Zeiten KameramannGenau aus diesem Grund wird von sehr vielen interessierten Menschen an mich die Frage gestellt, wieso denn immer mehr auf Video aufgezeichnet werde? Es ist so billig. Wenn man unsicher ist, kann man alles gleich anschauen . Die Kassetten kosten nix. Man weiß immer, ob und was drauf ist. Man braucht kein Licht. Das sind so die Meinungen, die üblicherweise kursieren. Ich stelle meist eine Gegenfrage: ,,Nehmen wir an, Film- und Videokameras würden etwa gleichviel kosten. Wie würden Sie sich  entscheiden?” Mit der Filmkamera kann man nach zwanzig Jahren noch durchaus schöne Bilder bekommen. Etwas unbequem und umständlich in der Handhabung, jedoch in der Qualität des Endproduktes kaum von einem heutigen Gerät zu unterscheiden. Mit einer fünf bis zehn Jahre alten Videoausrüstung muß man sich langsam Gedanken darüber machen, wie man mit dem neuen Sonderabfallbeseitigungsgesetz zu Rande kommt. Arbeitsergebnisse sind kaum verkäuflich, da die Aufzeichnungsnorm veraltet ist oder die technische Zuverlässigkeit nicht mehr dem aktuellen Standard entspricht.

FILM VIDEO
Langzeitarchivierung möglich Informationsverlust auf alten MAZ-Bändern
hohe Auflösung geringere Auflösung
strake individuelle Einflußnahme durch Lichtgestaltung und Emulsionswahl gleichmäßig geschönte Bilder
breites Belichtungsspektrum extreme Lichtstimmungen sehr problematisch
internationale TV-Standardisierungen möglich Transcodierungen teuer und verlustreich
keine Witterungsprobleme Probleme bei Hitze, Kälte und hoher Luftfeuchtigkeit
Zeitlupe Zeitlupe nur möglich durch Wiederholen einzelner Bilder
Zeitraffer Zeitraffer nur über kurze Zeiträume möglich
teuer bei hohem Drehverhältnis Aufnahmematerial billiger
durch Laborzeiten erst später sichtbare Ergebnisse schneller sichtbare Ergebnisse
Verwendung des Suchers immer möglich Energieverbrauch auch im Standby-Mode
energieverbrauch gering und nur während des Laufs Akkus immer noch sehr schwer

Somit freut sich die Industrie, wenn der Kunde nach vier bis fünf Jahren wiederkommt und ein neues Gerät kauft, damit er zumindest  technisch konkurrenzfähig bleibt. Daß viele Videoproduktionen es nicht schaffen, den Innovationszyklus mit dem Investitionszyklus zu synchronisieren, zeigen die Insolvenzstatistiken. Gelingt es ihnen doch, muß gespart werden. Der hohe Anteil der Technikkosten kann nur auf der Personalseite aufgefangen werden: Wenig geschulte „Multitalente” ersetzen gut ausgebildete Fachleute. Die Einbuße an technischer, künstlerischer und gestalterischer Qualität ist die Folge. Dürfen aber reine Handelsinteressen Gestaltung und Qualität bestimmen? Wo viel Geld umgesetzt wird. sollte es auch viel Gewinn geben . Wo Gewinn abgeworfen wird, wird auch belohnt. Jetzt fällt es mir schon sehr schwer nicht zu glauben, daß Personen, die mit Kauf- und Systementscheidungen betraut sind, verführerische Einladungen angenommen haben, in ferne Länder zu reisen, um diverse fremde Techniken zu studieren. Leider ist die Verlockung, in München der Firma Arri oder in Leverkusen Agfa einen Besuch abzustatten, nicht so groß wie die eines Ausfluges nach Fernost – um nur ein Beispiel zu erfinden. Es sind aber nicht nur die Entscheidungsträger, die von der Videolobby a.uf einen Antifilmkurs getrimmt werden. Seit einiger Zeit werden Vorschriften und Pflichten entwickelt, die versuchen, durch gezielte Einflußnahme bei Lichtbestimmungen das Filmbild so lange zu korrigieren, bis es der Video-Ästhetik entspricht. Lichter werden finsterer, Schatten werden heller – damit geht die Tiefe verloren: typisch für die Zweidimensionalität des Videos (ich weiß schon, Film ist auch nicht dreidimensional – aber ein bißchen
mehr al’s nur zwei). Der Begriff der „Euroabtastnorm” (nur in Deutschland und Österreich existent) soll endlich alle Filmbilder video-like machen. Man hört, daß bereits große Produktionen diese Normenlatte nicht bezwingen konnten.
Da sollen die herangereisten Techniker nur mehr die Bewegungen des Oszillographen und nicht die der Bilder einer Geschichte beobachtet haben. Der fotografische Stil mußte in das enge Korsett dieser fraglichen Norm hineinkorrigiert werden. Daß es anders möglich ist, zeigt das Beispiel Werbung. Hier gilt nur der Geschmack des Kunden, der hofft, daß sein Geschmack auch der des Publikums ist. Wer zahlt schafft an – da gibt es keine Euronorm.

Gibt es eigentlich in der heutigen Zeit noch Platz für so archaische Techniken wie die des Films? Gibt es Bedarf an höherer künstlerischer Gestaltungsmöglichkeit? Wer wünscht schon die Wiedergabe schönster Lichtstimmungen? Möglicherweise
befinde ich mich mit einigen Kollegen auf einer einsamen Insel, die vielleicht zum Reservat wird.

Stephan Mussil

P.S.: Unzweifelhaft ist es schon ein Fortschritt, daß die Kollegen beim „Toor!”Schrei des Edi Finger jun. nicht mehr mit der 30-Meter-Spule zum wartenden Motorradfahrer laufen müssen.

Magetische Zeiten - Stephan Mussil - Media Biz 1994